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Oscar Wilde war ein Meister des Wortwitzes und der gesellschaftlichen Satire. Er sagte einmal:
«Ein Gentleman ist jemand, der nie unbeabsichtigt die Gefühle anderer verletzt.»
Dieser Satz ist ebenso subtil wie typisch für Oscar Wilde. Er beschreibt den wahren Gentleman – oder allgemeiner, jede kultivierte Person, ob Mann oder Frau – als jemanden, der sich der Macht der Sprache bewusst ist und sie mit Sorgfalt und Bedacht einsetzt.
Doch die eigentliche Raffinesse dieser Aussage liegt in ihrer Doppeldeutigkeit: Sie impliziert, dass ein wahrer Gentleman sehr wohl verletzen kann – und es auch tut, wenn es nötig ist. Der Unterschied liegt nicht im Verzicht auf Härte, sondern in der bewussten Entscheidung, wann und wie sie eingesetzt wird.
Es ist die Kunst, nicht wahllos um sich zu schlagen, sondern gezielt zu treffen. Ein wahrer Meister der sozialen Interaktion navigiert dieses Minenfeld nicht nur unbeschadet – er weiss auch genau, wann es Zeit ist, eine Mine zu zünden.
Die Kunst zu beleidigen
Etwas klotziger formulierte es Arthur Schopenhauer, der nur zwei Generationen vor Oscar Wilde lebte, er sagte:
«Wenn man merkt, dass der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob. Diese Regel ist sehr beliebt, weil jeder zur Ausführung tauglich ist, und wird daher häufig angewandt.»
Wenn wir das Rad der Zeit weiter zurückdrehen, bis ins antike Rom, erkennen wir, dass unverblümte Direktheit dort als eine geschätzte Tugend galt.
Ein herausragendes Beispiel ist Cicero, oft als Vaterfigur der Rhetorik betrachtet. Er beherrschte die Kunst der Beleidigung mit meisterhafter Präzision. Überlieferungen zufolge nutzte er in den Gerichtssälen und politischen Arenen Roms eine Kombination aus scharfsinniger Analyse und schonungsloser Kritik, um seine Gegner zu demontieren. Dabei scheute er sich nicht, drastische Worte oder sogar derbe Fäkalsprache einzusetzen, wenn es seinem rhetorischen Zweck diente.
Doch das war im antiken Rom keineswegs ein Skandal – im Gegenteil: Eine scharfe, auch beleidigende Sprache wurde in der Öffentlichkeit nicht nur toleriert, sondern oft erwartet. Sie galt als Zeichen von Stärke und rhetorischer Schlagfertigkeit, nicht als moralisches Fehlverhalten.
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Der unumstrittene Champion der Schwergewichtsklasse
Nun könnte man sagen: andere Zeiten, andere Sitten. Doch wer sich die politische Bühne der Gegenwart ansieht, merkt schnell – geändert hat sich wenig. Die Methoden sind die gleichen, nur die Bühne ist grösser, das Publikum lauter.
Ein Paradebeispiel: die Präsidentschaftswahl 2016 in den USA. Trump setzte nicht nur auf klassische Wahlkampfstrategien, sondern auf einen brutalen, persönlichen Schlagabtausch. Hillary Clinton wurde von ihm als «schreckliche Lügnerin» gebrandmarkt, als «nasty woman» (unerzogene Frau) und als «crooked Hillary» (hinterlistig, korrupt). Ob diese Zuschreibungen der Wahrheit entsprachen oder nicht, spielt hier keine Rolle. Der Punkt ist: Seine Masche funktionierte – und sie funktioniert immer noch.
Viele glaubten damals, das sei bloss eine aggressive Wahlkampfstrategie gewesen, ein kalkulierter Trick. Doch acht Jahre später fährt Trump exakt dieselbe Nummer – und das mit noch grösserem Erfolg. Joe Biden hat er eine ganze Kollektion von Spitznamen verpasst: «Sleepy Joe», «Slow Joe», «Beijing Biden» – jeder mit chirurgischer Präzision gewählt, um einen Makel zu verstärken, ein Image zu zementieren. Ron DeSantis, der sich als republikanischer Konkurrent aufstellte, wurde kurzerhand in Ron DeSanctimonious umgetauft – ein Etikett, das ihn als scheinheiligen, überheblichen Moralisten abstempeln sollte.
Diese Art der Namensverunglimpfung ist Trumps Spezialität. Kein anderer beherrscht sie so perfekt wie er. Er hat diese Technik praktisch patentiert – eine perfide Mischung aus Spott und Branding, die sich tief ins kollektive Gedächtnis brennt. Und das Erschreckendste? Sie funktioniert. Denn die Betroffenen nehmen es hin. Sie wehren sich nicht. Sie lassen sich etikettieren, während das Publikum lacht und applaudiert.
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Altes Drehbuch, neue Bühne.
Das Muster persönlicher Angriffe und Beleidigungen ist keine Erfindung der Neuzeit. Es folgt einer uralten Tradition, in der es nicht nur darum geht, den politischen Gegner zu besiegen, sondern ihn als Person zu demontieren.
Was jedoch neu ist, ist die Bühne, auf der dieses Schauspiel aufgeführt wird. Soziale Medien haben das altbewährte Rezept perfektioniert – sie liefern die Reichweite, die Geschwindigkeit und die Echokammern, in denen Beleidigungen nicht einfach verpuffen, sondern sich potenzieren. Politische Diskurse verkommen so immer mehr zu reinen Inszenierungen, in denen Polemik das Sagen hat und sachliche Auseinandersetzung kaum noch eine Chance bekommt.
Natürlich können wir uns endlos darüber echauffieren, wie diese Entwicklung zur Polarisierung der Gesellschaft beiträgt. Darüber lamentieren, dass solche Taktiken nicht zu konstruktivem Dialog führen, sondern die Gräben zwischen politischen Lagern weiter vertiefen. Dass sie Misstrauen schüren, Feindbilder verstärken und die politische Kultur vergiften.
Aber mal ehrlich: Hat all diese Empörung jemals etwas verändert?
Seit der römischen Antike bis heute setzen sich immer wieder diejenigen durch, die ihre Gegner mit Worten demontieren, statt mit Argumenten zu überzeugen. Vielleicht sollten wir uns weniger über die Methoden empören – und mehr darüber nachdenken, warum sie so verdammt gut funktionieren.
Vor 2500 Jahren wurden Menschen auf offener Bühne beschimpft und diffamiert, und heute tun sie es mit der gleichen Leidenschaft. Daran hat sich nichts geändert.
Das Einzige, was sich geändert hat, ist die moralische Empörung über solche Sprache in der Öffentlichkeit. Und natürlich darf man sich empören, so viel man will – das ist jedermanns gutes Recht.
Nur sollte man sich nichts vormachen: Mit Empörung hat man solche Leute noch nie zum Schweigen gebracht.
Gefangen zwischen Passivität und Eskalation
Um wieder zurück zu Schopenhauer zu kommen. In seinem Werk «Die Kunst zu beleidigen» beschreibt er mit einem kaum verhehlten Vergnügen die Steigerung eines beleidigenden Wortgefechts:
«Wenn der Beleidigende grob gewesen ist, sei man noch viel gröber: Geht dies mit Schimpfen nicht weiter an, so schlägt man drein, und zwar ist auch hier eine Klimax der Ehrenrettung: Ohrfeigen werden durch Stockschläge kuriert, diese durch Hetzpeitschenhiebe: Selbst gegen letztere wird von einigen das Anspucken als probat empfohlen. Nur wenn man mit diesen Mitteln nicht mehr zur Zeit kommt, muss durchaus zu blutigen Operationen geschritten werden.»
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Das klingt nun wirklich nicht nach kultivierter Auseinandersetzung – so gar nicht gentleman-like. Und selbstverständlich war sich jemand vom Format eines Schopenhauer völlig bewusst, dass ein solches Verhalten von der Gesellschaft streng verurteilt wird. Er schreibt weiter:
«Jede Grobheit ist eigentlich eine Appellation an die Tierheit, indem sie den Kampf der geistigen Kräfte oder des moralischen Rechts und dessen Entscheidung mittelst Gründe für inkompetent erklärt und an seine Stelle den Kampf der physischen Kräfte setzt.»
Mit anderen Worten: Wer beleidigt, erklärt Argumente für zwecklos und setzt stattdessen auf rohe Dominanz. Diese Form der Eskalation führt unweigerlich in eine Abwärtsspirale der Gewalt, in der am Ende nur eines zählt – der Sieg des Stärkeren. Ein Rückfall in archaische Muster, die einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig sein sollten.
Doch was ist die Alternative? Ignoriert man Beleidigungen, lässt man sie einfach über sich ergehen, dann wirkt das nicht etwa edel oder moralisch überlegen – es sieht vielmehr nach Kapitulation aus. Wer stillschweigend zum Angriff schweigt, bestätigt damit nur die Macht des Beleidigers und legitimiert das Prinzip des Stärkeren auf eine andere Art.
Und genau hier liegt das Dilemma: Es gibt scheinbar nur zwei Wege – Eskalation oder Passivität. Wer sich auf das Niveau seines Angreifers herablässt, riskiert, als genauso primitiv abgestempelt zu werden. Wer hingegen die Angriffe einfach hinnimmt, macht sich in den Augen der Welt selbst zum Vollpfosten, Schwächling und Verlierer.
Egal, wie man reagiert – am Ende scheint es, als könne man nur falsch liegen.
Was wären die Alternativen?
Viele argumentieren, dass es sehr wohl einen dritten Weg gäbe, der weder in passiver Hinnahme besteht noch in aggressiver Gegenwehr. Dieser Weg basiere auf der Stärke des moralischen Rechts und der geistigen Kraft.
Was aber bitte schön soll das heissen «die Stärke des moralischen Rechts und der geistigen Kraft»? Dass man seinem Angreifer mit einem besonders erhabenen Gesichtsausdruck gegenübertritt, bis er sich vor Scham in Luft auflöst? Dass man mit einer klugen Analyse seines Fehlverhaltens eine wütende Meute zur Besinnung bringt? Oder dass man sich einfach voller Stolz zum Opfer erklären kann, während einem verbal die Zähne ausgeschlagen werden?
Mal ehrlich: So klingt akademischer Bullsh¡t, der in Büchern vielleicht funktionieren mag, aber in der Praxis selten bis nie Bestand hat.
Nennen wir das Kind beim Namen: Jemand wie Donald Trump ist ein «rhetorischer Barbar» – mit einfachem Vokabular, aber äusserst wirkungsvollen Parolen. Das ist keine Aussage über seine politische Agenda, sondern eine rein kommunikationstechnische Betrachtung. Eine Rhetorik seines Schlages lässt sich nicht durch ein Regelwerk des Anstands in die Knie zwingen. Wer glaubt, dass zivilgesellschaftliche Mechanismen aggressives und destruktives Verhalten ächten und sanktionieren können, ohne dabei selbst in Barbarei abzurutschen, unterschätzt die Dynamik solcher Konfrontationen.
Die Hilflosigkeit der Moralaposteln
Wie erbärmlich machtlos diese angebliche «Stärke des moralischen Rechts» und der «geistigen Kraft» in der Realität ist, hat sich in Amerika offenbart. Jeder Versuch, Donald Trump auf legalem Wege zu Fall zu bringen, ist nicht nur gescheitert, sondern hat sich stellenweise zur Farce entwickelt. Man versuchte es mit moralischer Überlegenheit, doch es wirkte unbeholfen – ja, fast verzweifelt. Und dann, als die hehren Prinzipien nicht reichten, wurde mit unfairen Mitteln gespielt – so viel zur Reinheit des moralischen Rechts.
Die selbsternannten Hüter der Anständigkeit offenbarten dabei nur ihre eigene Doppelmoral. Sie predigten Werte, die sie im Kampf gegen Trump bereitwillig verrieten, nur um ihn zu stürzen. Doch wer die eigene Moral so biegt, dem glaubt man sie nicht mehr. Wer aus Angst und Paranoia handelt, wirkt nicht stark, sondern erbärmlich. Kein Wunder, dass viele Wähler nicht etwa Empörung, sondern Verachtung empfanden.
Das eigentliche Problem? Man weiss nicht, wie man mit einem «rhetorischen Barbaren» umgehen soll. Niemand aus dieser vermeintlich überlegenen Elite wagt es, sich im direkten Schlagabtausch die Hände schmutzig zu machen. Man setzt auf juristische Tricks, auf Appelle an die Vernunft – als könnte man mit Logik einen Tornado aufhalten. Doch wer wirklich gewinnen will, muss den Mut haben, King Kong herauszufordern. Und zwar nicht mit Mahnfingern und moralischen Manövern, sondern mit echter Schlagkraft.
Panem et circenses – Brot und Spiele für das gemeine Volk
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Das politische Spiel ist ein Spektakel, das immer noch in einer Arena vor tosendem Publikum stattfindet. Niemand steigt in eine Arena, um zu verlieren. In einer Arena geht es nur um eines: überleben. Hier gibt es keinen Platz für Verlierer.
Und wir, das gemeine Volk, wir lieben nach wie vor die Unterhaltung. Der Pöbel ergötzt sich am aufgewirbelten Staub, dem lärmenden Spektakel und dem rhetorischen Blutbad.
Man sollte sich also nicht allzu überrascht zeigen, wenn sich jemand nicht an die «Spielregeln» hält und um sein Überleben kämpft. In einer Arena moralisch punkten zu wollen, mag den einen oder anderen Szenenapplaus einbringen. Aber ein K.O.-Schlag unterhalb der Gürtellinie? Der wird frenetisch bejubelt.
Soll das heissen, dass ich das Verhalten von Menschen wie Trump gutheisse?
Nein. Das ist die falsche Betrachtungsweise. Wer diese Frage stellt, betreibt moralische Nabelschau – eine Beschäftigung, die sich nur diejenigen leisten können, die nie in den Kampf müssen.
Blicken wir auf die gegenwärtige politische Arena Amerikas: Überall liegen Gefallene. Überall Trümmer, zerschmetterte Karrieren, moralische Leichen. Und mittendrin steht eine einzige Person – unversehrt, ohne einen Kratzer. Diese Person ist kein Moralapostel.
Wenn Oscar Wilde also sagt: «Ein Gentleman ist jemand, der nie unbeabsichtigt die Gefühle anderer verletzt.» Dann hat das etwas zu bedeuten. Ein wahrer Gentleman weiss genau, dass Moral nichts mit Wehrlosigkeit zu tun hat. Ein echter Gentleman versteht, wann der Moment für Contenance gekommen ist – und wann ein Schlag ins Mark notwendig wird.
Denn was ist eine Moral wert, die nur gefordert, aber nie verteidigt wird? Eine Moral, die sich brav an Regeln hält, während sie selbst mit Füssen getreten wird?
Don’t hate the player, hate the game.
Es ist ein miserables Spiel. Doch irgendjemand muss die Drecksarbeit machen.
Die einzige Frage ist: Wer?
Onlinekurs:
Wie man klare Grenzen zieht
und durch gezielte Konfrontation sich erfolgreich durchsetzt und kommuniziert