Viele kennen den Alpha-Typ – den dominanten Anführer – und die meisten von uns haben schon vom Beta gehört, der eher im Hintergrund bleibt. Auch der Omega ist bekannt: das Schlusslicht im sozialen Gefüge. Aber was bitteschön soll ein Sigma sein?
Während Alpha, Beta und Omega klare Rollen in der sozialen Hierarchie spielen, positioniert sich der Sigma ausserhalb dieser Strukturen. Er ist der «einsame Wolf», der die Regeln der sozialen Leiter ablehnt. Er sieht sich zwar selbst als starke Persönlichkeit, ohne jedoch den Drang zu verspüren, im Mittelpunkt stehen zu wollen.
Doch was ist wirklich dran an diesem Mythos?
Ich bin mir noch nicht sicher, welchen Ton ich für diesen Beitrag einschlagen soll. Das ist nämlich mein zweiter Versuch. Den ersten habe ich gelöscht. Mir wurde klar, dass ich dem Thema nicht gerecht geworden bin. Mein erster Impuls bei dem Stichwort Sigma war Ablehnung. Es scheint eine leicht angreifbare Idee zu sein, die sich ohne grossen intellektuellen Aufwand trashen lässt. Doch dann erkannte ich, dass der «Sigma-Status» weniger ein Abzeichen ist, das man stolz zur Schau trägt, sondern vielmehr ein Hilfeschrei.
Sigma – oder wer hat’s erfunden?
Ich habe gegoogelt und recherchiert. Ich habe Chat GPT gefragt und ich habe sogar in Büchern geblättert, um herauszufinden, woher denn dieser Begriff «Sigma» stammt in diesem Kontext. Alles, was ich gefunden habe, ist eine endlose Flut von Diskussionen in Internetforen und Blogs, die diesen Typ verherrlichen oder kritisieren. Anders als Begriffe wie «Alpha» oder «Beta», die zumindest teils auf tierischen Verhaltensstudien basieren, entstammt «Sigma» der Popkultur, ohne jegliche wissenschaftliche Grundlage.
Der Sigma-Mythos scheint irgendwann in den späten 2010er Jahren aufgetaucht zu sein, als in Online-Foren über vermeintliche Persönlichkeitstypen wie Alpha und Beta diskutiert wurde. In diesen Debatten wurde Sigma als eine Art Anti-Alpha präsentiert: Ein Mann, der zwar die Selbstsicherheit und Stärke eines Alphas besitzt, aber sich bewusst von der sozialen Hierarchie distanziert. Der Sigma-Mann sei der «einsame Wolf», der sich von sozialen Normen befreit und seinen eigenen Weg geht.
Apropos Sigma-Mann, ein kurzer Einschub an dieser Stelle: Es gibt auch Behauptungen über sogenannte Sigma-Frauen. Doch der Fokus dieses Beitrags bleibt beim Sigma-Mann, da dieser weitaus häufiger diskutiert und mit modernen Männlichkeitsbildern in Verbindung gebracht wird. Es scheint, dass gerade Männer sich öfter mit diesem Mythos identifizieren, da er eine Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen und Rollenbilder ist, die sie in Frage stellen. Daher macht es Sinn, sich hier auf den Sigma-Mann zu konzentrieren, um die zugrunde liegenden Dynamiken besser zu beleuchten.
Wir können aber soweit schon mal festhalten, dass der Begriff «Sigma» willkürlich gewählt wurde, weil er unbesetzt war und irgendwie «cool» klang – ohne tiefergehende philosophische Grundlage. Letzten Endes handelt es sich wie so oft in solchen Fällen um nichts anderes als eine Marketing-Idee, die Menschen anspricht, die sich weder als Alpha noch als Beta identifizieren können oder wollen. Es ist eine Reaktion auf Orientierungslosigkeit, in einer Welt, in der traditionelle Männlichkeitsbilder zunehmend hinterfragt werden.
Sigma – ein Widerspruch in sich
Der Begriff «Sigma» ist relativ jung und möglicherweise auch deswegen etwas naiv gewählt. Wie bereits erwähnt, wird der Sigma-Mythos oft mit dem Bild des «einsamen Wolfs» verglichen, der ausserhalb der sozialen Hierarchie stark und erfolgreich ist. Doch es gibt drei grosse Probleme mit dieser Vorstellung:
Erstens: Der einsame Wolf ist kein Symbol für Stärke, sondern für Schwäche. In der Natur ist ein einsamer Wolf entweder aus einem Rudel ausgestossen oder hat es verloren, was in der Wildnis kaum eine Erfolgsstrategie ist. Wölfe sind Rudeltiere und stark abhängig von gemeinschaftlicher Zusammenarbeit. Ohne das Rudel fehlt dem Wolf nicht nur die soziale Bindung, sondern auch die notwendigen Ressourcen, um zu jagen, sich zu verteidigen und zu überleben. Isolation führt hier nicht zu Überlegenheit, sondern zu Verwundbarkeit. Das steht im klaren Widerspruch zu der romantisierten Vorstellung des Sigma als unabhängige, starke Persönlichkeit.
Zweitens: Bezeichnungen wie Alpha, Beta oder Omega beschreiben keine Persönlichkeitstypen, sondern Rollen innerhalb einer Hierarchie. Diese Begriffe deuten lediglich auf den jeweiligen Status in einer sozialen Ordnung hin – sie sagen nichts über die persönliche Charakterstruktur aus. Ein Alpha beispielsweise steht in der Hierarchie an der Spitze, was aber nichts darüber aussagt, wie er seine Position einnimmt oder welche Charaktereigenschaften ihn prägen. Das bedeutet: Die Idee, dass der Sigma-Typ eine völlig neue Persönlichkeitskategorie bildet, verkennt den eigentlichen Zweck dieser Bezeichnungen.
Drittens: Der Sigma-Typus behauptet, sich aus den typischen sozialen Rollen herauszunehmen und eine eigene Kategorie für sich zu schaffen. Hierbei gibt es jedoch einen wesentlichen logischen Widerspruch – wie zuvor bereits angedeutet: Der Begriff «Sigma» und die zugrunde liegende Idee entstammen demselben hierarchischen System, das sie angeblich ablehnen. Es ist ein Widerspruch, sich einerseits von sozialen Hierarchien distanzieren zu wollen, gleichzeitig aber die Sprache und Denkweisen dieser Hierarchien zu übernehmen, um einen eigenen Status zu definieren.
Mit anderen Worten: Der Sigma versucht, sich über die Hierarchie zu stellen, strebt aber implizit immer noch nach einer bestimmten Position innerhalb dieses Systems. In Wahrheit agiert der Sigma nicht ausserhalb der Hierarchie, sondern wird durch den Versuch, sich abzugrenzen, erst recht zu einem Teil davon. Ein solcher Versuch ähnelt eher dem Verhalten eines verzweifelten Omega, der sich abseits der Gesellschaft bewegt, aber dennoch in irgendeiner Weise um Anerkennung ringt. Dieses Streben nach Unabhängigkeit wirkt letztlich wie ein Abwehrmechanismus, der jedoch nicht wirklich ausserhalb der Hierarchie funktioniert, sondern in seiner Isolation eine ähnliche Schwäche wie die des Omega aufweist.
Kein Mensch agiert ausserhalb sozialer Strukturen
Der Sigma-Mythos basiert auf der Idee, dass jemand komplett unabhängig von sozialen Strukturen agieren kann. In der Realität ist das eine Illusion. Menschen interagieren ständig mit anderen, sei es in der Familie, im Beruf oder in sozialen Kreisen. Erfolg ist oft das Resultat von Kooperation, Teamarbeit und zwischenmenschlicher Interaktion.
Wölfe wie Menschen sind zutiefst soziale Wesen. Niemand existiert ausserhalb von sozialen Hierarchien oder Netzwerken, unabhängig davon, wie viel Unabhängigkeit eine Person anstrebt. Auch vermeintlich «einsame» Persönlichkeiten sind Teil eines sozialen Gefüges, wo sie selbst andere beeinflussen und von anderen beeinflusst werden.
Sigma-Vorbilder existieren nicht. Die üblichen und typischen Figuren stammen entweder aus der Comic- oder der Filmwelt. Nur mal so als Beispiel, nehmen wir doch den aktuellsten missverstandenen Sigma-Helden: Er wird oft als der ultimative Einzelgänger dargestellt. Ein Mann, der nach dem Verlust seiner Frau und seines Hundes eine blutige Rachemission antritt. Er agiert unabhängig und ohne Rücksicht auf soziale Strukturen, sei es in der Welt der kriminellen Unterwelt oder in seinem persönlichen Leben.
In Wahrheit ist John Wick nicht so unabhängig, wie er scheint. Ein wesentlicher Teil seiner Stärke kommt von den Netzwerken und Beziehungen, die er über Jahre aufgebaut hat. Der geheime kriminelle Zirkel, die «Continental»-Hotels, seine Kontakte zu Waffenhändlern und Verbündeten sind essentiell für sein Überleben und seine Effizienz. Wick ist zwar isoliert, aber er ist stark abhängig von diesem Netzwerk, was der Sigma-Idee widerspricht, die Unabhängigkeit und Ablehnung sozialer Bindungen betont. Ausserdem wird seine Isolation als tragisch und zerstörerisch, nicht als erstrebenswert, dargestellt. Seine Racheaktion basiert auf einem persönlichen Verlust, der ihn letztlich nur weiter ins Chaos stürzt, anstatt ihm Frieden oder Erfüllung zu bringen.
Auch Tyler Durden aus Fight Club wird oft als rebellischer, antisozialer Charakter betrachtet, der sich gegen die gesellschaftlichen Normen und kapitalistischen Strukturen stellt. Er verkörpert auf den ersten Blick die Idee des Mannes, der sich von Konformität und Hierarchien befreit hat, um seine eigene, anarchische Welt zu schaffen.
Tatsächlich ist Tyler Durden ein zerstörerisches Produkt psychologischer Zerrissenheit, eine gespaltene Persönlichkeit des namenlosen Protagonisten. Die Rebellion, die er anführt, basiert nicht auf echter Freiheit, sondern auf tief verwurzelter Selbstzerstörung und inneren Konflikten. Das vermeintliche Bild des «freien Sigma-Mannes» ist in diesem Fall das Ergebnis von psychischen Traumata und nicht ein Zeichen von bewusster und gesunder Unabhängigkeit. Und abgesehen davon, ist die «Fight Club»-Bewegung eine soziale Struktur, die er aufbaut, um Anhänger zu gewinnen und zu beeinflussen – was völlig dem Sigma-Ideal widerspricht.
Wir könnten diese Liste endlos fortsetzen: Neo, der vermeintlich unabhängige Auserwählte, ist kein Sigma-Typ. Seine Reise wäre ohne die Unterstützung von Morpheus, Trinity und der Crew der Nebuchadnezzar unmöglich gewesen. Bruce Wayne alias Batman ist ebenfalls kein Einzelgänger. Ohne seine Vaterfigur Alfred und die Technologien, die ihm zur Verfügung gestellt werden, wäre er sowohl als Bruce Wayne als auch als Batman handlungsunfähig.
Tatsächlich gibt es keinen einzigen Helden, der dem Sigma-Ideal wirklich standhält. Helden sind keine einsamen Wölfe, sondern Wesen, die auf Netzwerke und Beziehungen angewiesen sind, um ihre Ziele zu erreichen. Der Sigma-Mythos ist daher nicht nur unrealistisch, sondern entwertet die fundamentale Bedeutung von Bindungen, die selbst die stärksten Figuren brauchen.
Der Hilferuf
Dass sich besonders viele junge Männer mit solchen «einsamen Helden» identifizieren, deutet auf ein tieferes gesellschaftliches Problem hin: den Mangel an positiven, greifbaren Rollenvorbildern. Diese Identifikation ist weniger ein Ausdruck von Stärke, sondern vielmehr ein Hilferuf. Es zeigt, dass viele auf der Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit und einem klaren Selbstbild sind – etwas, das in unserer modernen Gesellschaften oft fehlt.
Die Identifikation mit Sigma-Figuren zeigt, dass diese Männer nach einer neuen Definition von Männlichkeit suchen, die weder dem traditionellen Alpha-Ideal entspricht noch in die als schwach empfundene Beta-Rolle passt. Das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, denn vieles, was in der Gesellschaft als «normal» gilt, kann tatsächlich schädlich oder ungesund sein. Diese sogenannte Normalität basiert oft auf künstlich konstruierten Idealen.
Doch anstatt eine gesunde Alternative zu finden, wird das Sigma-Ideal zu einer Flucht vor sozialen Erwartungen und einer Überhöhung von emotionaler Distanz. Die wahre Botschaft sollte jedoch sein, dass Männlichkeit und Selbstwert durch soziale Bindungen und das Finden von Sinn entstehen, nicht durch Isolation. Es ist weder gesund noch normal, sich zu isolieren und zu glauben, man sei dadurch freier. Einsamkeit schränkt uns mehr ein als jede Regel, die die Gesellschaft uns auferlegen könnte.
In einer Gesellschaft, in der traditionelle Männlichkeitsbilder wanken und der Druck auf junge Männer wächst, sich zu behaupten, führt der Sigma-Mythos in die falsche Richtung. Statt sich in Abkapselung zu verlieren, sollte die Suche nach einem Vorbild zu einem Weg führen, der Selbstverwirklichung in Verbindung mit Gemeinschaft und sozialer Verantwortung fördert. Ganz im Sinne von Nietzsche, der einmal gesagt haben soll:
«Wer sich in die Einsamkeit flüchtet, um sich von der Welt zu distanzieren, läuft Gefahr, nicht weiser, sondern nur bitterer und härter zu werden.»
Die gesellschaftlichen Folgen des Sigma-Mythos
Die beiden am häufigsten verwendeten Worte in Abschiedsbriefen von Männern, die sich das Leben nehmen, sind: «sinnlos» und «nutzlos». Diese Begriffe sind eng miteinander verbunden, denn Sinn entsteht oft dort, wo man seine Nützlichkeit erkennt. Menschen empfinden Sinnhaftigkeit, wenn sie sich als wertvoll und gebraucht innerhalb einer Gemeinschaft fühlen. Nützlichkeit ist fast immer auf den Beitrag zur Gesellschaft gerichtet – sei es durch Beziehungen, Arbeit oder andere soziale Interaktionen. Sinnfindung ist also per Definition tief in die Gesellschaft eingebettet, und isoliertes Handeln führt selten zu tiefer Sinnhaftigkeit.
Der Sigma-Mythos vermittelt jedoch die gefährliche Vorstellung, dass wahre Stärke und Erfolg durch Unabhängigkeit von sozialen Bindungen erreicht werden können. Diese Idealisierung von Isolation verstärkt eine Form von toxischem Individualismus, bei dem soziale Beziehungen und Empathie als unnötig oder gar als Schwäche gesehen werden. Dadurch wird jungen Männern suggeriert, dass sie sich von anderen distanzieren müssen, um sich zu behaupten. Sie könnten glauben, dass Erfolg nur in Abwesenheit von sozialen Verpflichtungen und Bindungen möglich sei.
In der Realität ist das Gegenteil der Fall: Menschen sind soziale Wesen. Zahlreiche Studien zeigen, dass enge soziale Beziehungen einer der wichtigsten Faktoren für langfristiges Wohlbefinden und Erfolg sind. Menschen, die sich emotional unterstützt fühlen, neigen dazu, nicht nur erfolgreicher zu sein, sondern auch gesünder und glücklicher. Der Sigma-Mythos unterminiert diese Realität, indem er soziale Bindungen als Hindernis darstellt. Diese Ideologie gefährdet vor allem junge Männer, die ohnehin bereits unter Druck stehen, traditionelle Rollenbilder neu zu definieren.
Der Rückzug in Isolation oder die Flucht vor gesellschaftlichen Erwartungen führt nicht zu einer besseren Selbstverwirklichung, sondern verstärkt häufig das Gefühl von Sinn- und Nutzlosigkeit. Anstatt neue, gesunde Wege zu finden, mit gesellschaftlichem Wandel umzugehen, verstärkt der Sigma-Mythos die Entfremdung und das Gefühl der Ohnmacht. Dieses Narrativ ignoriert die wesentlichen menschlichen Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Akzeptanz und Zusammenarbeit und hinterlässt einen gefährlichen Weg in die soziale und emotionale Isolation.